5 Wie viele Erzählertypen katastrophal schlechter Geschichten kennen Sie?
Hin und wieder hören wir eine Geschichte. Doch sie ist so schlecht erzählt, dass wir am liebsten davonrennen wollen. Natürlich ist das die Schuld des jeweiligen Erzählers. Er oder sie hat eine oder mehrere Eigenschaften, die es schwer machen, in die Geschichte einzutauchen. Das ist tragisch. Denn diese Eigenschaften machen uns in Maßen zu brillanten Geschichtenerzählern.
1. Der Historiker
Er muss alles so erzählen, wie es tatsächlich war und welche Hintergründe dazu geführt haben. Bei ihm gibt es kein High Noon um 12 Uhr mittags, sondern er führt das Gespräch mit seinem Kollegen um 14:32 Uhr an einem Dienstag im Juni. Der Dialog entwickelt sich auch nicht in wenigen Momenten zu einem heißen Konflikt. Stattdessen erzählt er davon, dass man sich erst auf den neuen Meeting Termin mit dem Kunden einigte, bevor er das Thema der problematischen Zusammenarbeit anspricht. Zur Richtigkeit gehört für ihn auch, dass der Streit sich über mehrere Treffen entwickelte, bis er es schließlich aufgab. Genauso wie zuvor sein Publikum, das an dieser Stelle bereits eine erholsame Tiefschlafphase erlebt.
2. Der Detailbesessene
Details sind ihm wichtig, egal wie relevant sie für die Geschichte sind. Deshalb erfahren wir auch, dass der Mann in der Straßenbahn, der ihm gegenüber saß, die preiswerten Schnürsenkel von einem indischen Hersteller trug. Die halten aber nicht viel aus. Der Mann in der Straßenbahn und seine Schnürsenkel haben nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun. Denn die ereignet sich erst beim Besuch der Oper. Bis dahin erfahren wir viel über die Innenstadtarchitektur, die völlig falsch platzierten öffentlichen Uhren und natürlich die rücksichtslosen Hundebesitzer, die ihren besten Freund überall hinmachen lassen. Man wundert sich, wie es der Erzähler überhaupt eines Tages bis zur Oper geschafft hat. Der Zuschauer ist dagegen schon nach wenigen Sätzen geschafft.
3. Der Sachliche
Ihm geht es vor allen Dingen um die trockenen Fakten. Seine Geschichten machen jedem Polizeibericht Konkurrenz. Er fährt einen Leihwagen. Vor ihm gibt es einen Unfall, weil ein Tier über die Straße gelaufen ist. Die Polizei war schnell da. Trotzdem musste unser Erzähler eine gute halbe Stunde im Stau warten. Das klingt so interessant, wie einer Wasserlache beim Trocknen zuzusehen. Der Polizeibericht liest sich wahrscheinlich ähnlich. Wir erfahren allerdings nicht die illustrierenden Informationen, die aus dem Bericht eine fesselnde Geschichte machen. Der Erzähler fährt einen Lamborghini Gallardo. Mit ihm im Flitzer sitzt das britische Supermodel Naomi Campbell. Es ist der Hauptgewinn eines Preisausschreibens. Als eine aus dem örtlichen Zoo ausgebüxte Giraffe über die Fahrbahn läuft, krachen die zwei vorausfahrenden Autos ineinander. Der richtige Moment für Naomi, auszuflippen und die beiden Unfallfahrer mit ihrer Louis Vuitton Tasche windelweich zu prügeln. Erst die Polizei bekommt die Lage wieder in den Griff. Denn inzwischen stehen fast 100 Menschen mit Handyknipse um die Szene herum und versuchen, eine prügelnde Naomi mit Tasche und Giraffe ins Bild zu bekommen. Aber vielleicht hat der sachliche Berichterstatter ja recht und seine Zuhörer brauchen diese Details nicht zu erfahren?
4. Der Leidende
Er hat Schlimmes erlebt und will, dass es jeder nachempfinden kann. Dabei durchlebt er sein Martyrium noch einmal mit dem ganzen Publikum. Da fließen dann Körperflüssigkeiten, die man niemals fließen sehen möchte, schon gar nicht in der eigenen Fantasie. Die Tränen des Redners sind real. Nach dem Vortrag möchte sein Publikum kollektiven Selbstmord begehen, solange es seinen Würgereflex noch unter Kontrolle hat.
5. Der Sprunghafte
Er scheint zu glauben, dass Geschichten viel interessanter werden, wenn man sie nicht zu Ende hört. Denn anders ist es gar nicht zu verstehen, warum er ständig von einer Geschichte zur nächsten springt. Da geht es seinem Hund ganz schlecht und er erinnert sich, dass er über dessen Rasse das erste Mal in einem Playboy-Artikel gelesen hat. Die Leute haben ja einen völlig falschen Eindruck von Männermagazinen. Außerdem gibt es ja auch Frauenmagazine. Er hat zum Beispiel mal in der Für Sie einen Artikel gelesen, wie Frauen ihre Liebhaber glücklicher machen können. Da sei er selbst rot geworden. Rot ist ja auch eine Signalfarbe. Im Karneval in Rio ist deshalb rot nur für ganz bestimmte … Ach nein, das ist ja der Karneval in Réunion. Den kennen Sie nicht? Da müssen Sie unbedingt einmal hin, dort gibt es nämlich eine ganz besondere Sitte. Da fällt ihm doch glatt ein, dass er letztens mit einem Polizisten von der Sitte zu tun hatte und ihn gefragt hatte, warum das „Sitte“ heißt …
6. Der Taucher
Er lässt sich gerne jede einzelne Erfahrung auf der Zunge zergehen. Noch als er die ersten zwei Ziffern der Nummer der Beschwerdestelle wählt, fühlt er den leichten Luftzug aus dem offenen Fenster. Das erinnert ihn an die zärtliche Berührung seiner Frau. Daher drückt er die Taste nicht ganz so ärgerlich, wie die ersten beiden Ziffern. „5“ – das ist die nächste Ziffer. Eigentlich hat diese Zahl keine Bedeutung für ihn. Doch jetzt in diesem Moment ist sie der direkte Weg, endlich eine Lösung für sein Problem zu bekommen. Könnte das ein Gefühl der Kontrolle sein? Noch sieben Ziffern, dann wird er das Klacken hören, wenn eine Verbindung hergestellt wird …
Sollte die Geschichte tatsächlich irgendwann enden, kennt sich das Publikum bereits bestens damit aus, am Ende zu sein.
Als Zuhörer muss man dem Taucher allerdings zugestehen, dass eine Verfolgungsjagd, in der die Fahrer in Millisekunden reagieren, so eine ganz besondere Qualität bekommt. Wenn sich 30 Sekunden Realzeit über eine 45-Minuten-Rede strecken. Da verpasst man beim Gähnen wenigstens nichts.
7. Der Na-Sie-wissen-schon-Typ
Er kennt seine Geschichte bestimmt sehr gut. Allerdings scheint er das auch vom Publikum zu glauben. Letztens saß er mit seiner Frau im Auto und da hatte sie diesen Blick. Na, Sie wissen schon! Da brauchte er gar nicht darauf zu warten, was ganz unweigerlich passieren würde. Aber wissen Sie was? Er geht dann einfach. Er springt aus dem Auto. Das hätte er dann doch lieber bleiben lassen. Na, Sie wissen schon, der Verkehr auf der Autobahn ist mörderisch. Also ist er gleich wieder rein. Seine Frau denkt, sie hat gewonnen und gibt ihm dieses miese Gefühl. Na, Sie wissen schon! Da bleibt Dir manchmal nichts Anderes übrig, als … den Mann von der Bühne zu buhen.
Sieben Erzähler, ein Zuhause
Alle diese Erzähler finden wir auch in uns selbst. Es sind die Extreme, die Sie in Maßen in jedem fesselnden Geschichtenerzähler finden. Deshalb weiß ich mit absoluter Sicherheit, wenn ich eine schlecht erzählte Geschichte höre: Genau der gleiche Redner könnte das Publikum mit seiner Geschichte auch verzaubern.
Der Schlüssel ist wie bei allem im Reden das Publikum. Es geht nicht darum, was ich erzählen will, sondern was mein Publikum braucht. Seine Bedürfnisse bestimmen, wie wir unsere Geschichte erzählen, was wir weglassen, verdichten, aktiv vorspielen, beschleunigen, verlangsamen und wo wir Spannungspunkte setzen, indem wie unsere Geschichte für einen Einschub pausieren lassen.
All das und viel mehr können und werden Sie nach der Lektüre dieses Buches auch anwenden. Ihr Publikum freut sich schon jetzt darauf.
Jede Geschichte kann spannend und unterhaltsam erzählt werden. Wir brauchen dazu kein Talent. Wir müssen nicht charismatisch sein und es ist nichts Geheimnisvolles dahinter. Genau deshalb sind langweilige Geschichten eine Tragödie. Für das Publikum und natürlich für den Redner.
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