Der allererste Moment

Angeblich ist das Reden vor Publikum schlimmer als der Tod. Zumindest in der Vorstellung einiger Menschen. Obwohl ich über 5 Jahre in diversen Toastmasterclubs Mitglied war und immer noch bin, habe ich bisher noch niemanden erlebt, der das so sehen würde.

Aber ich habe natürlich Symptome der Angst gesehen. Die Stimme versagt? Klar, das passiert. Kalter Schweiß? Ja, ist nicht so lecker, wenn Du dem angstschwitzenden Toastmaster die Hand schütteln musst. Und natürlich die Tränen der Hilflosigkeit und Scham, weil die Worte einfach nicht kommen wollen.

Für Scham gibt es keinen Grund. Selbst eine Ikone der Weltgeschichte, wie Mahatma Gandhi schwor sich einst, nie wieder vor Publikum zu reden, nachdem ihm in seiner ersten Gerichtsverhandlung als frischgebackener Anwalt die Stimme versagte. Schamerfüllt rannte er unter dem Gelächter seiner Kollegen aus der Verhandlung.

Gandhi hat trotzdem die Weltgeschichte verändert. Doch dazu gleich noch mehr. Der Anlass für diesen Blog-Beitrag ist der Austritt eines Mitglieds aus einem meiner Toastmasterclubs, weil die Angst zu groß war. Mir persönlich tut so etwas weh. Denn Toastmasters ist für all die Leute gegründet worden, die vor Angst auf der Bühne ihr eigenes Licht nicht zeigen können.

Im ersten Moment auf der Bühne entscheidet sich, ob Du Angst haben wirst oder nicht. Dieser Moment entscheidet über Souveränität oder Unsicherheit. Doch nichts ist entweder schwarz oder weiß. Es gibt diverse Grade der Souveränität und genauso ist es auch mit Unsicherheit. Daher wird Dir meine Drei-Punkte-Checkliste auch dann helfen, wenn Du normalerweise keine Schwierigkeiten hast, vor ein Publikum zu treten.

Checkliste für den ersten Moment

  1. Habe ich meinen (richtigen) Hut auf?
  2. Präsenz?
  3. Person?

Habe ich meinen (richtigen) Hut auf?

Den Ausdruck, den Hut für eine Sache aufzuhaben, hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Bei Reden hast Du den Hut auf, wenn Du etwas zu sagen hast. Das ist nicht selbstverständlich.

Im Berufsleben kann es schon einmal passieren, dass ein Vorgesetzter möchte, dass einer seiner Mitarbeiter vor dem Team das Wort ergreift und den Informationsstand zusammenfasst oder etwas erklärt. Eigentlich sollte das kein Problem sein. Denn der Mitarbeiter hat ja eine klar umrissene Aufgabe. Er sollte etwas zu sagen haben.

Der Schlüssel ist hier das Wort „sollte“. Denn wir haben nur dann etwas zu sagen, wenn wir das wollen. Für manche Chefs ist das bloße Semantik. Wer sich aber mit der Geschichte von Mahatma Gandhi befasst, weiß, dass er den ersten Fall als gerade graduierter Anwalt verhandeln sollte. Nur war es nie sein Wunsch, Anwalt zu werden. Es war die Idee seines verstorbenen Vaters. Er hatte ihm in die Hand versprochen, dass er Anwalt werden würde. Als Gandhi dann vor dem vollbesetzten Gerichtssaal sprechen sollte, hatte er nichts zu sagen.

Jahre später wurde er nach Südafrika geschickt, um einem Freund der Familie in einer Rechtsangelegenheit zu unterstützen. Dabei erlebte er aber den Rassismus und die Ungerechtigkeit von Apartheid. Das machte ihn so wütend, dass er schließlich vor Gericht gegen die Auswüchse der Apartheid kämpfte und für seine Landsleute in Südafrika Gleichberechtigung einforderte. In diesem Fall hatte er etwas zu sagen, weil er es wollte. Er hatte den Hut auf. Danach hatte er immer etwas zu sagen.

Aber den Hut aufzuhaben ist erst die halbe Miete. Die Präsentationsexpertin Nancy Duarte sieht eine Rede als Teil einer Heldenreise jeder einzelnen Person im Publikum an. Die Heldenreise ist eine Erzählformel für Geschichten, die wir bereits in der ältesten jemals niedergeschriebenen Geschichte, dem Gilgamesh-Epos der Sumerer wiederfinden. Vermutlich gibt es das Format der Heldenreise noch länger. Aber die Keilschrift der Sumerer ist ihre erste schriftliche Überlieferung. Die Ilias (der Trojanische Krieg) und die Odyssee sind beides ebenfalls Heldenreisen, wie übrigens auch die Nibelungen-Sage.

Eine Heldenreise hat logischerweise einen Helden. Allerdings ist das die Rolle, die Duarte dem Publikum zugedacht hat. Jeder Held hat seinen Mentor, der ihm hilft, Entscheidungen zu treffen und seine Probleme zu lösen. In dieser Rolle sieht Duarte den Redner. Nach ihrer Lesart, bringt der Redner sein Publikum an die Schwelle zum Abenteuer. Der Held muss dann entscheiden, ob er sich in das Abenteuer stürzt oder nicht. Das Publikum muss entscheiden, ob es etwas lernt, sich motivieren lässt oder sogar inspirieren.

Wie wichtig das richtige Rollenverständnis ist, merken wir, wenn ein Redner den falschen Hut trägt. So mancher wähnt sich selbst in der Rolle des Helden. Er kämpft gegen das Böse und die Dummheit, ist clever und vorausschauend und natürlich muss ihn jeder lieb haben. In einem Wort: Anstrengend!

Dem Publikum bleibt dann nur eine Rolle, die dem Helden zumindest ähnelt: Der Gegenspieler. Das kann für den Redner nicht gutgehen. Der richtige Hut bedeutet also, sich selbst als Mentor des Publikums zu verstehen, sich in seinen Dienst zu stellen und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Präsenz?

Der zweite Punkt auf der Checkliste heißt „Präsenz“. Körperlich anwesend sind die meisten Redner. Das allein reicht nicht. Präsenz heißt in diesem Fall, zu 100 Prozent im Hier und Jetzt zu sein. Nicht darüber nachzudenken, worüber Du gleich reden wirst oder darüber, dass Du etwas unbeholfen auf die Bühne gestolpert bist. Wenn Du absolut in diesem Moment weilst, kannst Du keine Angst haben. Denn die kommt ja vom denken. Bist Du wirklich präsent, denkst Du gerade überhaupt nichts. Du bist einfach für das Publikum da.

Präsenz nehmen wir auch wahr, wenn wir im Publikum sitzen. Wir merken es, wenn der Redner gerade voll bei der Sache ist und für uns da ist.

Zum Glück muss heute keiner ein Zen-Meister werden, um präsent zu sein. Ich habe vor einiger Zeit einen sehr wertvollen Tipp gelesen, der bei den meisten funktioniert.

Stell Dir vor, Du trittst auf die Bühne. Du redest nicht sofort los. Denn Du stellst erst einmal sicher, dass Du auch wirklich da bist. Daher bewegst Du Deine Zehen in Deinen Schuhen und versuchst sie dabei genau wahrzunehmen. Du spürst jeden einzelnen von ihnen. Für Dich mag das eine komische Vorstellung sein, aber für Deine Zuschauer stehst Du einfach nur einen Moment da. Aber die Achtsamkeit gegenüber Deinen Zehen transportiert Dich direkt ins Hier und Jetzt. Du merkst das sofort, weil Du mit einem Mal keine Aufregung mehr spürst. Das ist der Moment, an dem Du Deine Rede beginnst.

Person

Wenn ich im Publikum sitze, verstehe ich mich nicht als Teil einer formlosen Masse. Ich bin immer noch ich. Ich bin immer noch das Individuum Kai-Jürgen Lietz. Wenn Du Dich an Deine Zuschauer wendest, kannst Du also nicht zum Publikum sprechen. Denn das gibt es gar nicht.

Stattdessen sitzen dort lauter einzelne Personen. In jedem Moment Deiner Rede sprichst Du daher mit einer Person. Natürlich wechselst Du zwischen den Personen, zu denen Du sprichst, damit möglichst jeder etwas von Deiner Aufmerksamkeit hat. So funktioniert das auch mit Augenkontakt.

Die meisten Menschen fühlen sich im Dialog mit einem einzelnen Menschen sehr wohl. Wenn sie erleben, dass die Rede vor einem Publikum nichts anderes ist als ein Gespräch mit einem anderen Menschen, verlieren sie ihre Scheu.

Daher: Auch wenn viele Personen vor Dir sitzen oder stehen. In jedem einzelnen Moment sprichst Du immer zu einer einzelnen Person.

Manch einer wird einwenden, dass es ja auch unangenehm ist, wenn Dich Dein Gesprächspartner permanent anschweigt. Richtig, das ist wirklich unheimlich. Daher wechseln wir ja auch ständig die Person, zu der wir sprechen. So kann das Schweigen des Einzelnen sich gar nicht auf Dich auswirken.

Dieser letzte Punkt auf meiner Checkliste funktioniert in den meisten Redesituationen. Wenn Du allerdings auf einer großen Bühne mit Scheinwerfern vor hunderten von Zuschauern stehst, kannst Du den Einzelnen wegen des Lichts kaum sehen. Du siehst nur ihre Schatten. Das ist allerdings kein Problem. Stell Dir einfach ihre Gesichter vor, am besten lächelnd und zustimmend nickend.

Check, Check, Check!

Jetzt weißt Du, was einen Moment der Souveränität von einem ersten Moment der Unsicherheit auf der Bühne unterscheidet.

Hab etwas zu sagen und sage es in der richtigen Rolle (hab den richtigen Hut auf), sei ganz im Hier und Jetzt (präsent) und sprich zu einzelnen Personen anstatt zu einer formlosen Masse des Publikums.

Der Autor ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Präsident des Taunus Toastmasters e.V., einem bilingualem Rhetorik-Club in Bad Homburg.