Trojanisches Pferd
Geschichten bestehen immer aus einer Mischung aus Kontext- und Erfahrungsperspektive. Lesen Sie in diesem Kurzbeitrag, wann Sie am besten welche Perspektive nutzen.
„Am Montag war ich im Budget-Meeting. Die Leute dort sind einfach unerträglich. Genauso war das Meeting! Stellen Sie sich vor, die vom Lager haben doch einfach das Budget vom letzten Jahr per Copy & Paste für das aktuelle Jahr vorgelegt! Natürlich habe ich den Müller vom Lager schön zusammengefaltet. Bei solchen Mitarbeitern brauchst Du keine Konkurrenz mehr!“
Diese Geschichte klingt wie aus dem wahren Leben gegriffen. Trotz der saloppen Sprache, wird sie uns aber nicht sonderlich berühren. Warum? Der Erzähler schildert uns, relativ abstrakt, was im Meeting passiert ist, aber nicht wie es passiert ist. Wir können es uns zwar vorstellen. Aber etwas Entscheidendes fehlt. Die Erfahrungsperspektive. Wir bekommen zwar Informationen, aber die Erfahrung selbst und das Gefühl fehlen.
Stellen wir uns vor, der Erzähler ergänzt seine Geschichte um diesen Teil:
„Ich sitze also im Meeting. Meine Zahlen sind gerade von allen abgenickt worden. Da steht der Müller vom Lager auf. Irgendwie schwant mir schon etwas. Denn der Mann stinkt förmlich vor Angst. Die Stirn schweißnass. Ich denke mir so, ’na hoffentlich muss ich bei dem keine Erste Hilfe leisten.‘ Und dann kommt’s. ‚Ich … ich habe mir überlegt, dass sich in meinem Bereich nicht so viel ändert. Also, das ist das gleiche Budget, wie im letzten Jahr.‘
Was für ein Waschlappen! Management by Copy & Paste, aber dann auch noch alle mit der Nase darauf stoßen! Faul kann man ja sein, aber dann auch noch dumm? Ich lehne mich also genüsslich zurück und atme einmal laut aus. Plötzlich ist es ganz still. In dem Moment hättest Du eine Nadel fallen hören, aber das Herz vom Müller rutschte etwas lauter in die Buxse …“
Der Erzähler ist in diesem Fall nicht sympathischer als zuvor. Aber die Geschichte nimmt uns direkt mit in den Meetingraum und wir erleben alles so, als wären wir direkt dabei. Das ist die Erfahrungsperspektive.
Während die Kontextperspektive die Zeit staucht, spreizt die Erfahrungsperspektive sie. Was als Erlebnis vielleicht nur Sekunden gedauert hat, kann sich in der Erzählung über Minuten hinziehen. Daher werden wir schon aus technischen Gründen die Erfahrungsperspektive nur sehr sparsam einsetzen.
Auch wenn wir alle Zeit der Welt für unsere Geschichte hätten, wäre es nicht wirklich sinnvoll, erlebten unsere Zuschauer jeden einzelnen Moment unser Geschichte in der Erfahrung. Übertreiben wir es, stumpft das Publikum ab und die Erfahrungsperspektive verliert ihre Wirkung.
Wir nutzen die Erfahrungsperspektive daher ausschließlich in den Szenen, in denen es wirklich darauf ankommt.
Immer dann, wenn unser Publikum Mitgefühl für den Helden aufbringen soll, ist die Erfahrungsperspektive genau richtig. Denn ohne Erfahrung und Gefühl kann es logischerweise kein Mitgefühl geben.
Bei der „Man in the Hole“ Dramaturgie von Kurt Vonnegut wären beispielsweise die richtigen Momente für die Erfahrungsperspektive die Krise und der Abgrund.
Vielen Erzählern wird es anfänglich schwer fallen, ihr Publikum in die Erfahrung zu führen. Denn abstraktes Denken und Erzählen gilt in unserer Gesellschaft als intelligent. Nur leider ist es so antiseptisch wie ein Hygienetuch. Erfahrungen dagegen sind ansteckend.
Fällt Ihnen die Erfahrungsperspektive noch schwer, dann trainieren Sie sie solange, bis sie ganz natürlich in sie hineinwechseln. Lassen Sie sich von niemandem einreden, es sei eine Talentsache. Es ist eine reine Übungssache.